Beim Erdöl läuft es seit langem nicht mehr wie geschmiert. Sein Preis ist seit dem Sommer im freien Fall und verharrt inzwischen auf historischem Tiefstand. Mt 35 Dollar pro Barell ist das Öl der Nordseesorte Brent heute so billig wie seit 12 Jahren nicht mehr. Mit umgerechnet 22 Cent pro Liter ist das einstige schwarze Gold günstiger als eine Flasche Wasser beim Discounter. Nun stellt sich die Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass der Preis des wohl wichtigsten Rohstoffs der Industrienationen derart an Boden verliert, wo es doch immer hieß, seine Vorkommen seien begrenzt und sein Zeitalter neige sich dem Ende zu? Ist der aktuelle Ramschpreis ernsthaft die realistische Bewertung eines angeblich knappen Guts?
Gegen den in den 1980ern prophezeiten Trend sind die Fördermengen heute so hoch wie noch nie. Dafür hat in erster Linie die USA mit der Fracking-Technologie gesorgt. Diese umstrittene Fördermethode, bei der Öl aus tiefen Gesteinsschichten gewonnen wird, ist nicht billig, doch scheinbar ist der Wunsch, energiepolitisch zum Selbstversorger zu werden, größer. Durch das amerikanische Engagement ist der Ölmarkt zu einem ganz normalen Wettbewerbsmarkt geworden, bei dem der Preis die Marktchancen vorgibt. Um der neuen US-Konkurrenz zu begegnen, hat Saudi-Arabien, der größte Erdölexporteur der Welt, kräftig an der Preisschraube gedreht und trotz des Überangebots an Rohöl seine Fördermengen nicht gedrosselt. Der Machtpoker im „schmierigen“ Geschäft war damit eröffnet.
Auch wenn die Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) im Moment recht zerstritten ist und sich auf keine Förderquoten einigen kann, sitzt das Kartell bei diesem Kampf um Marktanteile am längeren Hebel. Unter dem Strich verdient zumindest Saudi-Arabien als die Nummer eins der Organisation aufgrund der geringen Förderkosten auch dann noch Geld, wenn die Preise auf diesem unterirdischen Niveau bleiben. Die Russen trifft der Preisverfall hart, sodass die russische Zentralbank bei diesem Szenario für 2016 mit einem Einbruch des Wirtschaftswachstums von bis zu drei Prozent rechnet. Eine solche Nachricht könnte im Oval Office einen spontanen Jubel auslösen, wären da nicht die Sorgen um die Situation im eigenen Land. Längst ist der niedrige Ölpreis für die US-Schieferölindustrie zu einer Belastung geworden, weil die technisch anspruchsvolle Fracking-Methode zusehends unrentabel wird. Die Grundlage der wirtschaftlichen Erholung des Landes nach der Finanzkrise ist damit am Bröckeln.
Wem nutzt der Preisverfall? Zuallererst den Verbrauchern, die dank günstigem Sprit deutlich mehr Freude am Fahren haben dürften. Dann wären da die Industriestaaten wie Deutschland, die das Öl so billig wie selten zuvor importieren und von einer besseren gesamtwirtschaftlichen Entwicklung profitieren können. Große Konzerne, bei denen Öl ein zentraler Grundstoff ist, wie z. B. im Bereich Chemie und Maschinenbau, sind wohl auch in Feierlaune. Unternehmen, bei denen die Kraftstoffausgaben einen nicht unwesentlichen Kostenblock ausmachen, können ihre Ertragssituation verbessern – und dazu dürften auch Bauunternehmen zählen. Doch der neue Geldsegen ist gerade bei mittelständischen Betrieben mit Vorsicht zu genießen. Zu groß ist der Reflex, die günstige Kostensituation dafür zu nutzen, den Preis der eigenen Leistungen verkaufsfördernd nach unten anzupassen. Eine Kettenreaktion innerhalb des Wettbewerbsumfelds wäre dann nur eine Frage der Zeit. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Ära des billigen Öls noch Jahre anhalten wird. Auch wenn dadurch in vielen Branchen der ökonomische Druck nachlässt, ist es wichtig, die in Gang gesetzten Prozesse für alternative Energien und Effizienzsteigerung in der Technik voranzutreiben – damit Flugzeugbauer weiter an neuen Materialien tüfteln und Bauunternehmer ihre Maschinenflotten auf einem aktuellen Stand halten.
Autor: Paul Deder